Juristische Texte in Leichter Sprache – geht das überhaupt? Nach anfänglichen Zweifeln bin ich sicher: Ja, es geht. Doch wie genau entstehen die Texte? Wie gehen die Übersetzer(innen) vor? Beziehen sie Jurist(inn)en in den Übersetzungsprozess mit ein? Was machen sie mit Fachbegriffen? Welche typischen Probleme müssen sie lösen? Und stößt die Übersetzung vielleicht doch irgendwo an Grenzen? Diese Fragen habe ich der Forschungsstelle Leichte Sprache an der Uni Hildesheim gestellt, die u. a. für das Niedersächsische Justizministerium juristische Texte in Leichte Sprache übersetzt hat. Mein herzlicher Dank gilt Isabel Rink und Marieke Einheuser für die ausführlichen Antworten.
Warum werden juristische Texte überhaupt in Leichte Sprache übersetzt?
Viele juristische und behördliche Texte haben einen direkten Bezug zu unserem alltäglichen Leben, etwa wenn es darum geht, über Rechte und Pflichten aufgeklärt zu werden (z. B. Erbrecht, Steuerpflicht, Zeugenladung). Versteht man derartige Texte nicht oder falsch, kann das unter Umständen gravierende Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation haben. Das Gelingen der Kommunikation ist deshalb besonders wichtig.
Das Dilemma besteht darin, dass ausgerechnet juristische Texte sehr anspruchsvoll sind und eine hohe sprachliche und konzeptuelle Komplexität aufweisen. Verstehen kann sie also nur, wer ein entsprechendes Sprach- und Weltwissen mitbringt. Selbst routinierte Leserinnen und Leser, die standardsprachliche Texte ohne Weiteres lesen und verstehen können, stellt die fachliche Ausprägung dieser juristischen Experten-Laien-Kommunikation regelmäßig vor Herausforderungen.
Überdies gibt es in Deutschland eine große Zahl von Menschen, deren Lesekompetenz aus unterschiedlichen Gründen so stark eingeschränkt ist, dass ihnen selbst der Zugang zu standardsprachlichen Texten verwehrt bleibt. Logischerweise sind sie auch innerhalb der Rechtskommunikation ständig auf die Hilfe Dritter angewiesen. Menschen mit Behinderung haben aber seit der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes im Jahr 2016 einen Anspruch auf sprachliche Barrierefreiheit (insbesondere §§ 4, 6, 9 und 11 Behindertengleichstellungsgesetz; § 11 BGG tritt zum 1.1.2018 in seiner endgültigen Fassung in Kraft). Hier setzt Leichte Sprache an. Durch Begleittexte in Leichter Sprache ist es möglich, diesem Anspruch gerecht zu werden und die Inhalte von Rechtstexten auch Menschen mit einer Leseeinschränkung zugänglich zu machen.
Wie gehen Sie bei der Übersetzung vor?
Der Übersetzungsprozess besteht aus mehreren Phasen.
Zunächst werden die Informationen selektiert. Das ist nötig, weil Leichte-Sprache-Texte aufgrund ihrer sprachlichen und formalen Charakteristika zu einem merklich umfassenderen Textvolumen bei gleichbleibendem Informationsgehalt tendieren. In Leichter Sprache gibt es beispielsweise keine Nebensätze. Jede Zusatzinformation muss in einem eigenen Hauptsatz ausformuliert werden. Auch das „Pronomenverbot“ in Leichter Sprache hat erhebliche Auswirkungen auf die Textlänge. Hinzu kommt der ausgeprägte Erklärcharakter der Texte, weil Konzepte eingeführt und Wissen angelegt werden muss. All diese Strategien machen den Text lang. Und je komplexer, d. h. je informationsdichter der Ausgangstext ist, desto länger wird der Leichte-Sprache-Text ausfallen. Da juristische Texte „von Haus aus“ sehr komplex sind, würden die übersetzten Texte so lang werden, dass dies nicht mehr zumutbar wäre. Die Textlänge würde selbst zur Hürde. Verhindern lässt sich das nur dadurch, dass man sich auf die wichtigsten Informationen beschränkt; das ist eine übliche Strategie der Übersetzung. Hierbei setzen wir auf die Expertise des juristischen Fachpersonals. Soweit möglich, fordern wir für die Übersetzung eine gekürzte Rohfassung des Ausgangstextes an, in der alle verzichtbaren, redundanten oder wenig aussagekräftigen Inhalte markiert sind.
Alle Leichte-Sprache-Regeln finden Sie auf der Website der Forschungsstelle Leichte Sprache. Dort gibt es auch die Möglichkeit, sich die Regeln als PDF-Datei herunterzuladen.
Es folgt die Analyse des Ausgangstextes mit Blick auf den konkreten Zieltext in der jeweiligen Zielsituation:
- Wer sind die Adressaten des Zieltextes?
- In welcher Kommunikationssituation soll der Text zum Einsatz kommen?
- Welche Funktion übernimmt er?
- Und wie muss er sprachlich, inhaltlich und medial gestaltet sein, damit er funktioniert?
Die Textcharakteristika des Ausgangstextes müssen an die Kommunikationsbedingungen des Zieltextes angepasst werden. Häufig kann deshalb nicht funktionskonstant übersetzt werden. Während z. B. ein ausgefülltes und eingereichtes Formular einen Rechtsvorgang in Gang setzt, informiert der Leichte-Sprache-Text lediglich über das Formular. Hier bestehen also unterschiedliche Textfunktionen.
Bevor der Text übersetzt werden kann, müssen außerdem inhaltliche Fragen geklärt werden. Die Leichte-Sprache-Übersetzer sind Sprachexperten in Bezug auf Verständlichkeitsstrategien. Je nach Fachgebiet und Grad der Fachlichkeit brauchen sie allerdings die Unterstützung der Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet. Das gilt insbesondere bei Fachübersetzungen in sensiblen Bereichen wie dem Recht und der Medizin.
Auf die eigentliche Übersetzung folgen mehrere Überarbeitungsphasen. Hierbei setzen wir auf das Vier-, unter Umständen auch auf das Sechs-Augen-Prinzip.
Auf Wunsch des Auftraggebers folgt abschließend noch eine Zielgruppenprüfung, wobei sich die Einbindung der Zielgruppe insbesondere auf konzeptueller Ebene empfiehlt. Die Forschungsstelle Leichte Sprache legt hier den Fokus auf prälingual Gehörlose, da diese aus verschiedenen Gründen besonders hohe Anforderungen an sprachlich barrierefreie Texte haben. Gibt es Einwände und Verständnisschwierigkeiten seitens der Prüfer, wird im Rahmen der Leichte-Sprache-Regeln nochmals nachgebessert.
Wie gehen Sie mit Fachbegriffen um?
Fachbegriffe gehören zu den markantesten Merkmalen der Fachkommunikation. Sie spielen eine große Rolle im Austausch zwischen Experten, da sie ein effizientes und zielgerichtetes Kommunizieren ermöglichen. Fachtermini haben fachspezifische, genormte und präzise Definitionen, die in der fachinternen Kommunikation vorausgesetzt werden können. In der Experten-Laien-Kommunikation werden sie allerdings schnell zur Kommunikationsbarriere, weil die unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen für ein Spannungsfeld zwischen sachangemessener und adressatengerechter Kommunikation sorgen. Dies stellt den Übersetzer vor große Herausforderungen bei der Übertragung in Leichte Sprache. Seine Aufgabe besteht darin, die impliziten Informationen hinter den Fachbegriffen mithilfe eines alltagsnahen Wortschatzes an die Oberfläche zu bringen. Reicht der Austausch von Wörtern nicht aus, um das Konzept hinter den Begriffen deutlich werden zu lassen, muss er konkrete Beispiele nennen und stereotype Situationen schaffen. Das sieht dann z. B. so aus:
Sie sind Opfer von einer Straf·tat?
Zum Beispiel:
Eine Person hat Sie verletzt?
Oder eine Person hat Ihre Sachen beschädigt?
Dann haben Sie bestimmte Rechte.
Viele Fachbegriffe müssen schließlich beibehalten und dem Leser bekannt gemacht werden, damit die Kommunikation über den Text hinaus gelingt. So ließe sich beispielsweise ein Informationstext zur Prozesskostenhilfe nicht ohne diesen Terminus realisieren, da der Leser ihn und seine Bedeutung kennen(lernen) muss, um handlungsfähig zu sein.
Was sind typische Probleme bei der Übersetzung juristischer Texte?
Neben schwierigen Fachbegriffen jenseits des Grundwortschatzes und den damit verbundenen Übersetzungsproblemen (siehe vorherige Frage) gibt es gerade im juristisch-administrativen Bereich eine Reihe alltagssprachlicher Begriffe, die speziell für den juristischen Zweck mit einer fachgeprägten Semantik belegt sind. Wörter wie Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahme bergen ein hohes Risiko, falsch verstanden zu werden, was mitunter erhebliche Konsequenzen für den Betroffenen haben kann.
Auch auf der Satzebene weisen juristische Texte sprachliche Strukturen auf, die für die Zielgruppen Leichter Sprache Verständnisschwierigkeiten bedeuten. Hierzu gehören vor allem die Nominalstrukturen, die typisch für einen hohen Fachlichkeitsgrad sind.
Beispiel aus einer Information zum Nachteilsausgleich im Flugverkehr:
„Bei schwerbehinderten Menschen, bei denen die Notwendigkeit ständiger Begleitung (Merkzeichen B) im Ausweis bescheinigt ist, gewähren die Deutsche Lufthansa und die Regionalfluggesellschaften im innerdeutschen Flugverkehr eine Ermäßigung für die Begleitperson.“
Quelle: Website des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie
Die Schwierigkeit von Nominalstrukturen liegt darin, dass sie abstrakt und in gewisser Weise vage sind. Die Zuordnung des Handlungsträgers (wer macht was?) ist kognitiv anspruchsvoll. Oft kommen Nominalstrukturen sogar ganz ohne expliziten Handlungsträger aus. Dieser muss dann über das Weltwissen und den Kommunikationskontext ermittelt werden. Für Rezipienten mit Leseeinschränkung ist ein eindeutiger Bezug aber wichtig, um die Handlungen korrekt zuordnen und auf die eigene Lebenssituation übertragen zu können. Bei der Übersetzung müssen die Nominalstrukturen deshalb durch Verbalisierung aufgelöst werden. Eine Übersetzung des zitierten Satzes könnte z. B. so aussehen:
Manche Menschen haben eine sehr schwere Behinderung.
Deshalb können diese Menschen vielleicht nicht alleine reisen.
Und deshalb brauchen diese Menschen vielleicht immer eine Begleit∙person.
Eine Reise kostet Geld.
Und die Begleit∙person muss auch Geld für die Reise bezahlen.
Zum Beispiel für das Flug∙ticket.
Aber die Begleit∙person bekommt vielleicht eine Ermäßigung für das Flug∙ticket.
Das heißt: …
…
Die Strategie der Verbalisierung ist nicht immer ohne Weiteres zu leisten. Die „Vagheit“ vieler Nominalstrukturen ist ja letztendlich auch nicht grundlos. Nicht immer lassen sich nämlich die Handlungsträger allgemein betiteln, sondern unterscheiden sich von Fall zu Fall. Das ist tatsächlich eine große Schwierigkeit.
Sie hatten es bereits angedeutet, trotzdem möchte ich die Frage noch mal ausdrücklich stellen: An welchen Stellen sind der Übersetzung Grenzen gesetzt?
Eine Grenze ist dort erreicht, wo der Umfang der Informationen durch die Übersetzung in Leichte Sprache selbst zum Problem wird: Wir können einer Leserschaft mit stark eingeschränkter Lesekompetenz nicht einen Text vorlegen, der die dreifache Länge des Ausgangstextes besitzt. Ein gleichbleibender Informationsgehalt ist deshalb nur selten möglich. Priorität haben die Informationen, die erforderlich sind, damit der Zieltext seine Funktion erfüllen kann. Je nach Medium müssen ggf. auch formelle Vorgaben und Bedingungen beachtet werden. Wir stoßen also nicht nur eine kognitive Grenze, nämlich die Leseeinschränkung der Zielgruppe, sondern auch an eine materielle Grenze (mediale Bedingungen, Vorgaben des Auftraggebers etc.). Eine umfassende Planung der Texte ist deshalb immer notwendig.
Die Übersetzung von Fachsprache in Leichte Sprache bedeutet grundsätzlich einen massiven Eingriff in die sprachliche und inhaltliche Struktur der Texte. Ein Text in Leichter Sprache informiert über ein bestehendes fachsprachliches Informationsangebot – den Ausgangstext. Damit sind Leichte-Sprache-Texte sozusagen Metatexte. Insbesondere bei Formularen, die in der Standardversion justiziabel sind, geht diese Justiziabilität mit der Übersetzung verloren, da beispielsweise ein Antragsformular nur in seiner genormten sprachlichen Form Gültigkeit besitzt. Eine alternative, sprachlich vereinfachte Variante ist hier zwar möglich, kann aber nicht rechtswirksam sein.
Was können Jurist(inn)en tun, um Leichte-Sprache-Übersetzer(inne)n die Arbeit zu erleichtern?
Die beste Voraussetzung für das Gelingen von Übersetzungen ist die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten und die Bereitschaft, sich den unterschiedlichen Argumenten und Perspektiven der Projektpartner zu öffnen; das Stichwort heißt Sensibilisierung. Juristen legen aus gutem Grund hohen Wert auf die juristisch korrekte Formulierung von Sachverhalten. Dementsprechend befremdlich sind für sie Leichte-Sprache-Varianten. Für die Akzeptanz von Leichter Sprache in der juristisch-administrativen Kommunikation ist es wichtig, dass ein flächendeckendes Bewusstsein über die grundlegend unterschiedlichen Textfunktionen von Rechtstexten und dem flankierenden Zusatzangebot in Leichter Sprache existiert. Ausgangstext und Zieltext stehen dabei in keinem Konkurrenzverhältnis, weil die Leichte-Sprache-Version immer nur ein Zusatzangebot ist, das die Teilhabe von Menschen ermöglichen soll, die eine Behinderung oder andere Einschränkung haben.
Ein anderer Aspekt, der bei Übersetzungsprojekten immer wieder auffällt, ist, dass viele Ausgangstexte trotz Fachsprache deutlich verständlicher formuliert sein könnten. Hier besteht aus unserer Sicht noch Handlungsbedarf. Verständlichkeitsoptimierte Texte würden nicht nur den Prozess der Übersetzung in Leichte Sprache erleichtern, sie würden auch in der originären Kommunikationssituation besser funktionieren.
Die Forschungsstelle Leichte Sprache hat zum 1.1.2014 ihre Arbeit an der Uni Hildesheim aufgenommen. Sie ist bislang die einzige Universitätseinrichtung, die sich schwerpunktmäßig mit Leichter Sprache befasst. Unter der Leitung der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Christiane Maaß untersucht die Forschungsstelle Texte und Medienangebote mit empirischen und theoretischen Methoden auf Verständlichkeit und bietet u. a. Übersetzungen in Leichte Sprache sowie Workshops und Schulungen an. Vor kurzem sind drei Bücher von Ursula Bredel und Christiane Maaß zum Thema Leichte Sprache im Dudenverlag erschienen.
Über die Autorinnen
Isabel Rink ist Geschäftsführerin der Forschungsstelle Leichte Sprache am Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim. Sie promoviert im Bereich „Barrierefreie Rechtskommunikation“. (Foto: Isa Lange, Pressestelle Uni Hildesheim)
Marieke Einheuser ist Mitarbeiterin der Forschungsstelle Leichte Sprache. Sie war als Übersetzerin in Übersetzungsprojekte mit dem Niedersächsischen Justizministerium eingebunden. (Foto: Isa Lange, Pressestelle Uni Hildesheim)