In Bezug auf die Zukunft des Flughafens Berlin-Tegel kann man unterschiedliche Meinungen vertreten. Das soll hier nicht das Thema sein. Was mich aber ärgert und zu diesem Beitrag veranlasst, ist die amtliche Broschüre, die über die Argumente für und gegen den Weiterbetrieb des Flughafens informieren soll. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass man seine Leser:innen allein durch die Art und Weise der Darbietung von Texten verwirren kann. Zurückzuführen ist das Durcheinander auf eine neue Rechtsvorschrift in der Abstimmungsordnung.
Am 24. September 2017 findet nicht nur die Bundestagswahl statt. In Berlin stimmen die Bürger:innen außerdem über den Weiterbetrieb des Flughafens Berlin-Tegel „Otto Lilienthal“ (TXL) ab. Mit der Wahlbenachrichtigung haben sie eine 18-seitige amtliche Informationsbroschüre zum Volksentscheid erhalten, die insbesondere die Argumente der Trägerin des Volksbegehrens für den Weiterbetrieb des Flughafens und die Gegenargumente des Abgeordnetenhauses und Senats enthält. Eine PDF-Datei der Broschüre steht auf der Internetseite der Landeswahlleiterin zum Download zur Verfügung.
Das Problem
Die Argumente für den Weiterbetrieb des Flughafens sind in der Broschüre jeweils auf den linken Seiten abgedruckt und die Argumente gegen den Weiterbetrieb jeweils auf den rechten Seiten. Grund dafür ist eine Rechtsvorschrift, die seit 2015 den Aufbau der amtlichen Information zu Volksentscheiden in Berlin regelt und nun erstmals Anwendung findet:
§ 6a Abstimmungsordnung
(1) Die Argumente der Trägerin einerseits und die Argumente des Abgeordnetenhauses und des Senats andererseits sind in der amtlichen Mitteilung nach § 32 Absatz 4 des Abstimmungsgesetzes nebeneinander (Fettdruck d. Verf.) in gleicher Schrifttype und Schriftgröße wiederzugeben. Dabei sind die Argumente der Trägerin auf den jeweils linken Seiten, die Argumente des Abgeordnetenhauses und des Senats nacheinander auf den jeweils rechten Seiten der amtlichen Mitteilung abzudrucken.
In der Vergangenheit war es so, dass die Argumente des Abgeordnetenhauses und des Senats erst nach den Argumenten der Trägerin des Volksbegehrens in der amtliche Information abgedruckt wurden. Dass sie nun neben den Argumenten der Trägerin platziert werden sollen, klingt erst mal nach einer guten Idee, legt es doch die Annahme nahe, dass die Pro- und Contra-Argumente gegenübergestellt werden sollen, um dem Leser einen Vergleich zu ermöglichen. Erstaunlicherweise ist genau das jedoch nicht der Fall. Es gibt in der Broschüre keine vergleichende Gegenüberstellung von Argumenten. Die strittigen Punkte werden von beiden Lagern noch nicht einmal in derselben Reihenfolge angesprochen. Zudem sind die Texte auf den linken und rechten Seiten unterschiedlich strukturiert. Das Wort „nebeneinander“ in § 6a der Abstimmungsordnung meint also tatsächlich „ohne gemeinsames Konzept nebeneinander“.
Was heißt das für die Leser?
Texte, die ohne gemeinsames Konzept nebeneinander abgedruckt sind, kann man nicht parallel lesen, wenn man die Argumentation beider Seiten nachvollziehen und sich nicht verwirren lassen will. Als Leser:in ist man folglich gezwungen, nach den ersten fünf einleitenden Seiten erst die geraden Seiten 6, 8, 10, 12, 14 und 16 zu lesen und dann die Seiten 7, 9, 11, 13, 15 und 17 (oder umgekehrt). Der Aufbau der Broschüre weicht damit erheblich von der gewohnten Leserichtung ab.
Auf der Suche nach Orientierung
Wer die Broschüre erstmals in Händen hält, kennt wahrscheinlich weder den zitierten § 6a der Abstimmungsordnung noch ist anzunehmen, dass ihm dessen Inhalt aus anderer Quelle bekannt ist. Er muss also selbst herausfinden, wie er die Broschüre zu lesen hat. Folgende Hinweise sollen ihm die Orientierung insofern erleichtern:
1. Auf den Seiten 6 und 7 (siehe Foto unten) gibt es zwei Überschriften, die auf den Aufbau hindeuten: Links heißt es „Argumente der Trägerin des Volksbegehrens“ und rechts „Argumente des Abgeordnetenhauses von Berlin“.
Ein Leser, der die Broschüre von vorne nach hinten liest, bis hierher also bereits in gewohnter Leserichtung fünf Seiten gelesen hat, muss an dieser Stelle umschalten und verstehen, dass sich die Leserichtung nunmehr ändert und er die Doppelseite als solche in den Blick nehmen muss. Selbstverständlich ist das nicht, denn man könnte auch annehmen, dass sich die Argumente der Trägerin des Volksbegehrens auf die Ausführungen auf Seite 6 beschränken und einfach auf Seite 7 weiterlesen. Der Punkt ist: Nichts außer den Überschriften selbst und den kleinen schwarzen Pfeilen unten auf den Seiten (dazu unten 2.) deutet auf die Änderung der Leserichtung hin.
2. Die nach unten weisenden schwarzen Pfeile (siehe Foto oben) habe ich erst entdeckt, nachdem ich mich schon eine Weile mit der Broschüre beschäftigt hatte. Andere Leser mögen diesbezüglich aufmerksamer sein. Ob sie die Pfeile allerdings intuitiv als Aufforderung verstehen, nun auf der übernächsten Seite weiterzulesen, wage ich zu bezweifeln, zumal wahrscheinlich nicht jedem auf Anhieb auffällt (mir übrigens auch nicht), dass die neben dem Pfeil angegebene Seitenzahl nicht die aktuelle Seite bezeichnet, sondern die Zielseite. Die regulären Seitenzahlen stehen oben auf der Seite.
3. Auf den Folgeseiten steht in den Kopfzeilen auf den linken Seiten „noch Argumente der Trägerin“ und auf den rechten Seiten „noch Argumente des Abgeordnetenhauses“ bzw. „noch Argumente des Senats“. Eine Orientierungshilfe ist das allerdings nur, wenn man bereits auf Seite 6 verstanden hat, wie man die Broschüre zu lesen hat.
4. Es gibt ein Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben. Aus diesen Angaben lässt sich auf den Aufbau der Broschüre schließen. Die Frage ist allerdings: Wer vertieft sich in einer Infobroschüre als erstes in die Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis?
5. Schließlich weist die Landesabstimmungsleiterin sogar ausdrücklich auf den Aufbau der Broschüre hin, dummerweise allerdings erst auf der letzten Seite.
Interessant ist an den fünf Orientierungshinweisen, dass sie im Ergebnis darauf zielen, dass der Leser die Broschüre genau so liest, als wären die Argumente beider Lager wie bisher nacheinander in der Broschüre abgedruckt. Offensichtlich hat man erkannt, dass ein paralleles Lesen nicht funktioniert, wenn es kein gemeinsames Konzept für die Präsentation der Argumente gibt.
Was hat sich der Verordnungsgeber nur dabei gedacht?
Wir haben also eine Infobroschüre vor uns, die von der üblichen Leserichtung abweicht, wenig überzeugende Versuche, dem Leser den Weg zu weisen, und einen wahrscheinlich dennoch verwirrten Leser. Da drängt sich die Frage auf: Was hat sich der Verordnungsgeber nur dabei gedacht, als er die Abstimmungsordnung geändert hat?
Das hat mir freundlicherweise auf Nachfrage die Senatsverwaltung für Inneres und Sport verraten: Das Ziel der neuen Regelung war, eine gleichberechtigte Präsentation der Argumente zu erreichen.
Damit der Senat den neuen § 6a in die Abstimmungsordnung einfügen konnte, musste das Abgeordnetenhaus zunächst die zugrunde liegende Ermächtigungsnorm (§ 44 Abstimmungsgesetz) ändern. Diese sieht nunmehr vor, dass der Senat auch dazu ermächtigt ist, den Aufbau der amtlichen Mitteilung nach § 32 Absatz 4 durch Rechtsverordnung zu regeln (§ 44 Abs. 1 Nr. 1a Abstimmungsgesetz).
Aus all dem kann ich nur schließen, dass sich Abgeordnetenhaus und Senat durch die bisherige Praxis benachteiligt fühlten. Mich überrascht das, denn viel wichtiger als die Reihenfolge der Argumente finde ich persönlich deren Überzeugungskraft. Zum anderen kann es doch auch sein, dass dem Leser gerade die Argumente besonders in Erinnerung bleiben, die er zuletzt gelesen hat?! Aber gut, das sah man im Senat und Abgeordnetenhaus offensichtlich anders.
Die Frage ist: Hat die neue Vorschrift in der Abstimmungsordnung den Verordnungsgeber seinem Ziel näher gebracht?
Ziel erreicht?
Ich denke nein. Wie gesehen, wird ein Leser, der den Aufbau durchschaut und den o. g. Orientierungshinweisen folgt, erst die Argumente der Trägerin des Volksbegehrens und dann die Argumente des Abgeordnetenhauses und des Senats lesen. Das einzige, was möglicherweise die gewünschte gleichberechtigte Präsentation der Argumente bringt, ist der Umstand, dass der Leser auf den Seiten 6 und 7 entscheiden kann, in Abweichung von der gewohnten Leserichtung mit den Argumente des Abgeordnetenhauses und des Senats zu beginnen. Diese Entscheidung konnte er in der Vergangenheit jedoch auch treffen, als die Pro- und Contra-Argumente noch nacheinander abgedruckt waren. Ich sehe folglich nicht, welchen Vorteil die neue Anordnung der Texte haben soll.
Und nun?
Dass der aktuelle Broschürenaufbau nicht optimal ist, hat man mittlerweile auch in der Berliner Verwaltung erkannt, wie ich von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport erfahren habe. Kein Wunder: Es gab bei der Landesabstimmungsleiterin zahlreiche Rückfragen von Bürgern. Diese hatten zwar mitbekommen, dass die Pro- und Contra-Argumente nebeneinander stehen, hielten dies aber offensichtlich für einen Gestaltungsfehler. Infolge der Rückfragen veröffentlichte die zuständige Geschäftsstelle sogar eine Pressemitteilung. In dieser wird darauf verwiesen, dass der neue Aufbau der rechtlichen Vorgabe entspricht, was der Rückseite der Broschüre zu entnehmen sei.
Wenn aber der aktuelle Aufbau nicht funktioniert, was gibt es dann für Alternativen? Wie müsste eine amtliche Information aussehen, die nicht nur die Argumente beider Lager gleichberechtigt präsentiert, sondern außerdem leserfreundlich gestaltet ist? Dazu habe ich drei Vorschläge.
Erster Vorschlag: vergleichende Gegenüberstellung der Argumente
Ideal und besonders bürgerfreundlich wäre aus meiner Sicht eine vergleichende Gegenüberstellung der Argumente. Das erfordert allerdings ein gemeinsames Konzept für die Präsentation derselben. Konkreter: Die Trägerin des Volksbegehrens sowie Abgeordnetenhaus und Senat müssten sich zumindest auf Überschriften einigen, welche die strittigen Punkte benennen, zu denen sie Argumente vorbringen, und die Reihenfolge dieser Punkte festlegen. Zu jedem Punkt könnte man eine Doppelseite in der Broschüre vorsehen und für die Pro- und Contra-Argumente jeweils maximal eine Seite zur Verfügung stellen. Dabei wäre in Kauf zu nehmen, dass es möglicherweise auch Punkte gibt, zu denen sich ein Lager nicht oder nur kurz äußert. In der Folge müsste sich dieses Lager bei den anderen Punkten entsprechend kürzer fassen, damit am Ende beiden Lagern derselbe Seitenumfang zur Verfügung steht, denn auch das ist eine rechtliche Vorgabe. Für diesen Vorschlag müsste man nicht mal den § 6a der Abstimmungsordnung ändern. Wie gesagt: Ich wäre beim Lesen der Vorschrift sofort davon ausgegangen, dass das Wort „nebeneinander“ nichts anderes meinen kann als eine vergleichende Gegenüberstellung, weil alles andere keinen Sinn macht.
Zweiter Vorschlag: vorab alle Argumente im Überblick
Der geringste Eingriff in den aktuellen Aufbau wäre, die Argumente zwar nebeneinander angeordnet zu lassen, diesen Broschürenteil aber mit einer zusätzlichen Doppelseite einzuleiten. Diese Doppelseite hätte drei Aufgaben:
- dem Leser einen Überblick über alle Pro- und Contra-Argumente zu ermöglichen;
- dem Leser zu erleichtern, die Begründung zu den Argumenten in der Broschüre zu finden, und
- dem Leser einen offensichtlichen Hinweis darauf zu geben, dass der Aufbau der Broschüre auf den folgenden Seiten von der gewohnten Leserichtung abweicht.
Im Falle der vorliegenden Broschüre könnte das z. B. so aussehen:
Auch wenn der Leser durch die Gestaltung und Inhalte der zusätzlichen Doppelseite sicher besser orientiert wäre als bei der vorliegenden Broschüre, bleibe ich dabei, dass dies deren wenig vorteilhaften Aufbau nicht verbessert. Ich würde die Übersicht eher mit dem dritten Vorschlag kombinieren. Texte und Pfeile unter den Kästen könnten dann freilich entfallen.
Dritter Vorschlag: Rückkehr zur ursprünglichen Regelung
Auf jeden Fall besser als die aktuelle Gestaltungsvariante wäre es, zur ursprünglichen Regelung zurückzukehren und die Argumente beider Lager nacheinander in der Broschüre abzudrucken. Dann könnte jede:r Leser:in selbst entscheiden, ob sie/er erst die Pro- oder erst die Contra-Argumente lesen möchte. Diese Möglichkeit ließe sich mit einer Übersicht aller Argumente (s. o. zweiter Vorschlag) noch unterstreichen. Zudem wäre mit einer derartigen Übersicht für die gleichberechtigte Präsentation aller Argumente gesorgt, was wiederum dem Senat gefallen dürfte.
Viel Lärm um nichts?
Ja, Sie haben ja recht: Berlin hat weiß Gott wichtigere Probleme, als den missglückten Aufbau einer Informationsbroschüre. Zudem wird die Mehrheit der Berliner(innen) es wahrscheinlich trotz aller Hürden schaffen, die Argumente irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch war es mir wichtig, auf das Problem hinzuweisen, denn ich verstehe einfach nicht, wie man eine derart unsinnige Regelung in die Welt setzen bzw. sie nicht in der nahe liegenden Weise umsetzen kann. Aus meiner Sicht profitieren von der Änderung im Aufbau nicht mal diejenigen, die sich Vorteile davon versprechen.
Hinzu kommt, dass sich die Unverständlichkeit nicht auf den Aufbau beschränkt. Auch die unklare Überschriftenstruktur auf den Seiten 4 und 5 und im Inhaltsverzeichnis hätte man vermeiden können.
Ich würde mir einfach wünschen, dass man in Verwaltungen mehr auf verständliche Kommunikation setzt, wenn es darum geht, die Bürger:innen zu informieren. Auch diese haben nämlich weiß Gott Wichtigeres zu tun, als sich mit unverständlichen Texten herumzuschlagen.
Lobend erwähnen möchte ich abschließend, dass meine Nachfrage zu den Hintergründen der neuen Vorschrift sowohl von der Geschäftsstelle der Landesabstimmungsleiterin als auch von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sehr schnell beantwortet wurde. Einem Mitarbeiter der Senatsverwaltung war die Angelegenheit sogar wichtig genug, um mich anzurufen.
Nicola Pridik
Ich bin Juristin und Inhaberin des Büros für klare Rechtskommunikation in Berlin. Mit meinen Dienstleistungen unterstütze ich Sie dabei, Rechtsinformationen verständlich und anschaulich für Ihre Zielgruppe(n) aufzubereiten. Dabei steht die Visualisierung von Recht im Mittelpunkt. kontakt@npridik.de